WHAT THE HELL: Elektronische Game Changer?
vor 3 Jahren von Traildevil

Elektronisch schalten, kabellos die Sattelstütze bewegen und automatisch arbeitende Gabel und Dämpfer: Die Bike-Industrie treibt die elektronische Systemintegration in immer neue Höhen. Doch wie viel Elektronik braucht’s am Bike? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns diese Woche bei «What the Hell!», unserem Blog, in dem wir uns mit aktuellen Mountainbike-Themen auseinandersetzen. Wie ist eure Meinung?
Die an Innovationen und technischen Revolutionen nicht gerade arme Bike-Industrie hat es diese Woche tatsächlich wieder geschafft, dass mir ein «Wow» über die Lippen glitt, als die Pressemitteilung von RockShox ins Postfach flatterte. Mit dem «Flight Attendant»-System betritt nun auch Rockshox nach Fox mit dem «Live Valve»-System den Spielplatz der elektronischen Fahrwerke. Das perfektes Fahrwerks-Setup, natürlich kabellos und voll automatisiert – so verspricht es zumindest das Produktmarketing.

Controlmodul des Flight Attendant Systems von Rockshox.
Abendfüllende Sinnfragen
Es ist mittlerweile schon wieder neun Jahre her, dass Rockshox die erste elektronische Suspension-Ansteuerung präsentierte, doch dem e:i Shock blieben grössere Erfolge verwehrt. Die Zeit war damals noch nicht reif. Doch seit Shimano mit der Di2 die Schaltung elektrifizierte und Sram mit der AXS-Gruppe auch noch Kabel und Züge überflüssig machte, Magura und Rockshox die Sattelstützen per Funk ansteuern, scheint die digitale Systemintegration beim Mountainbike nicht mehr aufzuhalten. Die Sachen funktionieren, schalten präzise und erkennen in Sekundenbruchteilen, ob es steil im Wiegetritt bergauf geht, oder ob einem dicke Felsbrocken den Weg versperren. Dazu gibt’s den Sensor am Helm, der erkennt, ob ein Sturz so schwer war, dass er über das Smartphone eigenmächtig einen Notruf absetzt und die GPS-Koordinaten gleich mit versendet. Bei all dem lacht das Tech-Nerd-Herz. Aber braucht es das? Ist das der Grund, warum ich mich aufs Bike setze? Mit dieser Sinnfrage kann man sicher die ein oder andere abendfüllende Diskussion bestreiten.
Purismus als Statement
2013 traf ich auf den staubigen Trails von Durango, Colorado, einen 52-jährigen Typen, der seinen Singlespeed-Stahlrahmen mit unglaublicher Kraft die steilsten Anstiege hinauftrat. Weil er es konnte. Weil er es wollte. Wir sahen trotz Carbon-Topmodell ziemlich alt aus, schnauften und quälten uns die sandigen Pisten nach oben. Als ich ihn fragte, warum er so spartanisch unterwegs sei, meinte er nur ganz lapidar «nothing there, nothing can brake». Er lachte - und pedalierte in abgeschnittener Jeans und Muskelshirt davon. Don’t give a fuck, Purismus als Statement!
Wer nicht gerade nach 2000 geboren ist, erinnert sich gut an Zeiten ohne Scheibenbremse oder Federgabel. Damals hiess es: Federgabel? Braucht es nicht! Scheibenbremse? Viel zu schwer! Fully? Mit so einem Sofa fahr‘ ich nicht! Und doch haben all diese Erfindungen den Sport massgeblich verändert. Sie haben das Mountainbiken komfortabler, schneller und vor allem auch sicherer gemacht. Jetzt sind Elektronik und Software am Zug, die nächste Bike-Revolution einzuleiten. Es wird sich zeigen, ob das automatische Fahrwerk neben der elektronischen Schaltung zum Standard wird - oder ob es ein Gadget für absolute Edel-Bikes bleibt.
Game Changer - or not?
Elektronik verbessert vieles, erleichtert einiges und verkompliziert manches. Sie hat sich in Beruf und Alltag geschlichen. Warum sollte sie vor unserer Freizeit Halt machen? Ob sie auf dem Mountainbike zum persönlichen «Game Changer» wird, wird sich zeigen. Das Gute daran ist: Jeder hat es selbst in der Hand. Und falls mich in einigen Jahren die sentimentale Wehmut erfassen sollte, hol‘ ich einfach mein Dirtbike aus dem Keller. Stahlrahmen, 26-Zoll-Reifen, extrem schlechte Gabel, eine Bremse – sonst nichts!

Thomas Werz
Als Chefredakteur des BORN Mountainbike Magazins findet er technischen Fortschritt am Bike per se spannend, fährt aber auch gern ganz spartanisch und analog durch den Wald. Kommentare